Opportunismus

Wider den Opportunismus

Er ist ein schlei­chen­des Gift, das ein­zel­ne Bürger und gan­ze Gesellschaften lähmt: Warum wir drin­gend den Opportunismus aus Politik, Wirtschaft und Medien ver­trei­ben müs­sen.

Er kommt in den ver­schie­dens­ten Gewändern: Mal geht es um ver­meint­li­che „Realpolitik“, bei der Werte nur hin­der­lich erschei­nen. Mal klei­det er sich in absur­de Entscheidungen der Unternehmensleitung, die nie­mand zu hin­ter­fra­gen wagt. Gerne zeigt er sich auch im gleich­gül­ti­gen Wegsehen, wo Zivilcourage gefragt wäre. Opportunismus ist eine Volkskrankheit. Er gefähr­det lang­fris­tig Wohlstand und Demokratie. Höchste Zeit für eine Bestandsaufnahme!

Die Politik

Die Suche nach Kompromissen ist das Wesen der Politik. Daher ist die Abgrenzung von berech­tig­ter Güterabwägung und rein oppor­tu­nis­ti­scher Verhaltensweise hier ver­gleichs­wei­se schwie­rig. Doch es gibt Leitplanken: Das Grundgesetz, die Europäische Menschenrechtskonvention und die UN-Menschenrechtecharta. Erschreckend häu­fig und gedan­ken­los wer­den die­se Grundpfeiler des Rechts im poli­ti­schen Alltag bei­sei­te gescho­ben.

Mit schö­ner Regelmäßigkeit kann man ver­fol­gen, wie der jeweils amtie­ren­de Innenminister, der eigent­lich die ver­fas­sungs­ge­mä­ßen Rechte der Bürger schüt­zen soll, vor lau­ter Sorge um das „Supergrundrecht Sicherheit“ (Hans-Peter Friedrich) deren mög­lichst lücken­lo­se Überwachung for­dert.

Von Wolfgang Schäuble über Thomas de Maizière bis hin zum der­zei­ti­gen Amtsinhaber Horst Seehofer sind die Unterschiede allen­falls in der Formulierung die­ses Ansinnens aus­zu­ma­chen. Und das ist kei­nes­falls eine Frage des Parteibuchs: Auch Otto Schily war ein wür­di­ger Preisträger des Big Brother Award.

Dem Vorwurf, viel­leicht ganz bewusst eben nicht „alles mög­li­che“ unter­nom­men zu haben, um die Bürger vor Gefahren zu schüt­zen, moch­te sich bis­her noch kein ein­zi­ger Innenminister aus­set­zen. Selbst Justizminister fal­len bei dem Thema schnell um, sie­he Heiko Maas bei der Vorratsdatenspeicherung. Umso bemer­kens­wer­ter erscheint bis heu­te der Rücktritt von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger wegen des „Großen Lauschangriffs“.

Die Wirtschaft

Über den frag­wür­di­gen Umgang Deutschlands reichs­ter Familie mit ihrer NS-Vergangenheit berich­te­te der Autor bereits im Jahr 2011 für das ZDF heute-journal. Wohl in kaum einem Bereich wird Opportunismus der­ma­ßen erwar­tet wie im Wirtschaftsalltag – und sei es um die völ­li­ge Preisgabe jeg­li­cher Werte.

Aktuelle Beispiele sind eben­falls reich­lich vor­han­den: Bayer sol­le die Glyphosat-Geschädigten noch eine Weile hin­hal­ten, um einen güns­ti­ge­ren Vergleich erzie­len zu kön­nen, argu­men­tiert etwa das Handelsblatt ohne jeg­li­chen Anflug von Scham.

Auch das soge­nann­te „Waffenembargo“ Deutschlands gegen Saudi-Arabien nach der von obers­ter Stelle befoh­le­nen Ermordung eines Regimegegners und vor dem Hintergrund des ver­hee­ren­den Kriegs im Jemen ver­dient eher die Bezeichnung „Ausnahmeembargo“. Oberste Sorge – auch in der öffent­li­chen Berichterstattung – ist die Uneinigkeit in der Europäischen Rüstungspolitik.

Die Medien

Wie an den genann­ten Beispielen bereits deut­lich wird, sind auch Journalisten nicht vor der Opportunitätsfalle gefeit. Nicht sel­ten aus Gedankenlosigkeit. Viel zu oft aber auch vor dem Hintergrund tat­säch­li­cher Zwänge: Wirtschaftliche Abhängigkeiten bei pri­va­ten Medien (erin­nern Sie sich noch an das Verbrauchermagazin „Wie bit­te?“ auf RTL?), direk­te poli­ti­sche Einflussnahme bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten (erin­nern Sie sich noch an ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender?)

Es gehört zu den Paradoxien des Journalistenberufs, dass man ihn eigent­lich nur dann wirk­lich unab­hän­gig aus­üben kann, wenn man ver­mö­gend oder ander­wei­tig wirt­schaft­lich abge­si­chert ist. Ansonsten fin­det man sich leicht in einer ähn­lich exis­ten­zi­el­len Situation wie­der wie der bedau­erns­wer­te Juan Moreno, der die „neue“ Spiegel-Affäre auf­deck­te und sich von sei­nem Ressortchef statt mit Glückwünschen mit einer Kündigungsdrohung kon­fron­tiert sah.

Besonders gra­vie­rend ist das struk­tu­rel­le Versagen gro­ßer Medienhäuser in der Wirtschaftsberichterstattung. Preisfrage: Wie vie­le Wirtschaftszeitungen gibt es in Deutschland? Genau, der Plural ist falsch.

Die Bürger

An die eige­ne Nase kann sich wohl jeder fas­sen, der sich ernst­haft mit Fragen wie Opportunismus oder auch Zivilcourage befasst. Dafür genügt meist schon eine län­ge­re S- oder U‑Bahnfahrt. Auch bei Wahlen ist ein aus­ge­präg­ter Egoismus im Sinne kurz­fris­ti­ger Vorteile und Versprechungen zu beob­ach­ten.

Gleichwohl: Es gibt auch unzäh­li­ge Gegenbeispiele.

Menschen, die unter Einsatz ihres Lebens Schiffbrüchigen hel­fen und dabei von den eigent­lich zustän­di­gen Behörden behin­dert wer­den.

Menschen, die „Football Leaks“ und ande­re Machenschaften auf­de­cken.

Menschen, die um der Sache wil­len per­sön­li­che Nachteile in Kauf neh­men.

Wider den Opportunismus

Das stärks­te Argument gegen den unsäg­li­chen Opportunismus unse­rer Zeit ist die Langzeitbetrachtung: Jeder hat heu­te beim Namen der reichs­ten Familie deren Nazi-Vergangenheit im Kopf, da mag sie noch so vie­le Journalistenpreise aus­lo­ben. Jeder weiß, dass Heiko Maas vor Sigmar Gabriel bei der Vorratsdatenspeicherung ein­ge­knickt ist.

Viele haben Hochachtung vor Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die sich nicht ver­rückt machen ließ von einem abs­trak­ten Bedrohungsszenario, das zur Rechtfertigung eines Anschlages auf die Verfassung dien­te.

An den muti­gen „S‑Bahn Held“ Dominik Brunner erin­nert heu­te eine gleich­na­mi­ge Stiftung. Sein Beispiel leuch­tet hell über allen Versuchen, es klein­zu­re­den.

Es liegt an jedem von uns, eine grund­sätz­li­che Entscheidung zu tref­fen: Für den kurz­fris­ti­gen Vorteil oder für das Richtige. Alles Weitere ergibt sich dann ganz von allein.

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