Bergkarabach: Vom tödlichen Versagen des deutschen Journalismus

Von Vita

Medien

Zuerst das Gute im Schlechten: Der bru­ta­le Angriff Aserbaidschans auf die arme­ni­sche Zivilbevölkerung in Bergkarabach – mit Bomben, Raketen und Kampfdrohnen gegen Männer, Frauen und Kinder – war den Kollegen in Deutschlands Redaktionen tat­säch­lich grö­ße­re Berichterstattung wert. Eine zuvor 10 Monate andau­ern­de Lebensmittel-Blockade durch Aserbaidschan, die zu meh­re­ren Hungertoten und etli­chen Fehlgeburten geführt hat, war es bis auf weni­ge Ausnahmen nicht. Genozid geschieht eben auch im 21. Jahrhundert zumeist im Schatten der media­len Aufmerksamkeit.

Nun also gibt es sie end­lich: Artikel, Beiträge, News-Ticker, sogar Live-Schalten zu Korrespondenten – natür­lich nicht nach Bergkarabach und noch nicht ein­mal nach Armenien, son­dern allen­falls ins weit ent­fern­te Moskau. Doch von wel­cher Qualität sind die­se Berichte? Einige Beispiele, frei zitiert nach Beiträgen aus den ver­gan­ge­nen Tagen:

Die Top 5 Fehler deut­scher Journalisten zu Bergkarabach

Top 1: „Bergkarabach gehört völ­ker­recht­lich zu Aserbaischan.“ – „Die arme­ni­schen Separatisten“

Richtig wäre: Bergkarabach („Arzach“ für die Armenier) wird schon län­ger von Armeniern bewohnt als es das Christentum gibt. Deshalb bemüht sich das mus­li­mi­sche Aserbaidschan auch nach­hal­tig dar­um, his­to­ri­sche Kreuzsteine, Kirchen, Bergklöster usw. zu zer­stö­ren. Ein – auch kul­tu­rel­ler – Genozid, der in Deutschlands Redaktionen bis hin zur Formulierung „arme­ni­sche Separatisten“ legi­ti­miert wird. Es war kein ande­rer als Josef Stalin, der das mehr­heit­lich arme­nisch bewohn­te Bergkarabach an Aserbaidschan ver­schenkt hat. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker als wich­ti­ges Prinzip im Völkerrecht war west­li­chen Politikern und Kommentatoren beim Kosovo übri­gens noch NATO-Bomben wert.

Top 2: „Die Kampfhandlungen / die Kämpfe“

Richtig wäre: Zu einem Kampf gehö­ren bekannt­lich zwei. Da im Falle von Aserbaidschan vs. Zivilbevölkerung von Bergkarabach jedoch eine hoch­ge­rüs­te­te Armee mit Hightech-Waffen gegen Familien „kämpft“, die höchs­tens über ein paar alte Gewehre ver­fü­gen, lau­tet der zutref­fen­de­re Begriff hier: Massaker mit über 200 Toten.

Top 3: „Nicht ein­mal Armenien erkennt Bergkarabach an“ – „Armenien kommt den Bergkarabach-Armeniern nicht zur Hilfe“

Richtig wäre: Armenien ist Aserbaidschan mili­tä­risch klar unter­le­gen. Während Aserbaidschans Diktator Aliyev auch dank Gas-Milliarden aus der EU über eine hoch­mo­der­ne Armee und Waffensysteme aus der Türkei, Russland sowie Israel ver­fügt, steht die demo­kra­tisch gewähl­te Regierung des klei­nen Armeniens mit dem Rücken zur Wand. Dass Armenien selbst die „Republik Arzach“ nie aner­kannt hat, hängt allein mit den jahr­zehn­te­lan­gen Verhandlungen über einen Friedensvertrag zusam­men.

Top 4: „Armeniens Schutzmacht ist Russland“

Richtig wäre: In Armenien ist im Jahr 2018 durch die „sam­te­ne Revolution“ eine demo­kra­tisch und pro-westlich ein­ge­stell­te Regierung unter dem Journalisten Nikol Paschinyan an die Macht gekom­men. Seitdem ver­sucht Russland mit aller Macht, wie­der die Kreml-treuen Oligarchen aus der der­zei­ti­gen Opposition zu instal­lie­ren. Deshalb stimm­te Putin mut­maß­lich bereits dem mas­si­ven Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach im Jahr 2020 mit über 5.000 Toten zu. Armeniens letz­te Hoffnung ist kei­nes­falls Russland, son­dern es sind aus­ge­rech­net die sehr unglei­chen Partner USA und Iran.

Top 5: „Der Konflikt geht auf das Ende der Sowjetunion zurück.“

Richtig wäre: Es han­delt sich um einen der ältes­ten unge­lös­ten Konflikte der Welt, den man nicht ohne Kenntnis vom Völkermord der Türken an 1,5 Millionen Armeniern im Osmanischen Reich ver­ste­hen kann. Mit einem tür­ki­schen oder aser­bai­dscha­ni­schen Nationalisten über die Armenier zu spre­chen ist unge­fähr das Gleiche wie mit einem Nazi über die Juden zu spre­chen. Zahllose Armenier star­ben bei Progromen auch auf dem Gebiet des heu­ti­gen Aserbaidschans, etwa in Baku. Von daher ist die Einladung von Diktator Aliyev an die arme­ni­sche Bevölkerung, künf­tig als Bürger sei­nes Terror-Staates zu leben, für Experten allen­falls ein zyni­scher PR-Trick, wäh­rend der Genozid täg­lich wei­ter­geht. Zitat Aliyev zu sei­nen Landsleuten: Man müs­se die Armenier „wie Hunde“ jagen. Erdogan freu­te sich auf der Siegesfeier für den mit mas­si­ver tür­ki­scher Hilfe geführ­ten Krieg von 2020 gar, dass einer der Haupttäter des Genozids von 1915 nun zufrie­den sein kön­ne.

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